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Inhalt

 

Zu dem Verb "lieben" - Dezember 2020

 

Zu unserer Vorstellung von Zeit - Oktober 2020

 

Zur Frage nach dem grassierenden Nationalismus - und wie wir das Problem lösen können - Februar 2019

 


Zu dem Verb "lieben"

 

 

Liebe. Lieben. Sich selbst lieben.

 Kann es sein, dass niemand zu lieben weiss? Dass es Liebe nicht gibt? Dass niemand jemals geliebt hat?

 

Wie fühlt es sich denn an, zu lieben?

Wie geht das: lieben?

Was ist nicht-lieben?

Ist es gut, den Begriff "lieben" zu analysieren?

 

Lieben ist nichts, was man fühlen, erleben kann, da lieben ein Abstraktum ist:

 

Wer einmal geritten ist, kann sofort nachfühlen, was "Schritt" ist.

Auch "Trab" und "Galopp" lassen sich in der Phantasie erleben. Beim "Tölt" werden viele Reiter mit den Achseln zucken, weil sie ihn nie erlebten. Noch nie erlebten. Denn sobald sie einmal eine der Pferderassen geritten haben, die auch "Tölt" laufen können, werden sie auch dieses Gefühl aufrufen können: Zu tölten.

 

Schritt, Traben, Galopp, Tölt sind erleb- und fühlbar. Sie sind nicht abstrakt. Sie gehören zum Lebendigen. "Gangart des Pferdes" nicht. "Gangart" ist ein Abstraktum.

 

"Stell Dir Gangart vor!"

"Welche denn?"

 

Die Anwesenheit eines gewissen Menschens kann das Herz höher schlagen lassen.

Das Herz kann sich weiten, wenn man an jemanden denkt.

Es kann einem die Sprache verschlagen, wenn man die Grossartigkeit eines Wesens erlebt.

Es kann einem auch die Sprache verschlagen, weil man etwas unendlich schönes erlebt.

Man kann vor Glück weinen. Man kann traurig sein, durch einen scheinbaren Verlust.

 

Wir können erleben, wie uns die Spucke wegbleibt vor Staunen, wie das Herz Hüpfer macht, wie ein wohliges Gefühl durch den Körper geht, weil wir jemanden so unendlich - ja, lieb haben.

 

Da ist es wieder.

Wenn die Worte fehlen, kommt es ins Spiel.

Und doch hilft es, sich klar zu machen: Lieben ist ein Abstraktum. Es ist nichts konkret erleb- und fühlbares.

 

Und wenn wir ehrlich in unserem kleinen Kämmerchen sitzen, dürfen wir uns gern zugeben, dass wir keine Ahnung haben, wie das gehen soll: Selbstliebe. Lieben.

 

Sei`'s drum - es gibt sovieles, wovon wir sehr wohl Ahnung haben: Staunen zum Beispiel. Oder auch zu mögen, zu erfreuen, zu lachen, zu heben, zu stützen, zu kitzeln, zu vögeln, zu nutzen, zu bewundern, zu umarmen, zu halten, zu drücken, zu bekochen, zu begöschen, zu amüsieren, zu streicheln...

 

Dezember 2020

 



 

Zu unserer Vorstellung von Zeit

 

Wie definieren wir selbst für uns Zeit? Glauben wir auf einer Zeitachse zu sein, also auf einer Geraden mit Anfangs- und Endpunkt?

Oder ist das Bild von Kreisen passender? Also von Kreisläufen, die zu einer Art von Spirale werden?

Zeitgeraden geben uns den Eindruck, das etwas Vergangenes wirklich ganz und gar vergangen ist. Nur: Ist das so?

Die Erfahrung zeigt anderes. Themen kommen immer wieder aufs Tablett. In anderer Form. In einem anderen Mantel gehüllt. Aber doch da. So sicher wie der Winter auf den Herbst folgt. 

Das kann schön sein. Inspirierend. Die Rede von Willy Brandt, die wir verlinken, ist vom 28. Oktober 1969 - und sie ist mit heutigen Öhrchen gelauscht, geradezu erstaunlich. Für die Jetzt-Zeit.

Auch die Aussagen von Brandt zur Umweltthematik von Juni 1972 (1 Minuten 40 Sekunden) atmen nicht nur den Geist vergangener Zeiten...

Hier die Links:

Willy Brandt am 28. Oktober 1969. (Bis 2.19 ist eine Art Einleitung)

Willy Brandt am 26. Juni 1972 in Lindau (Zu hören in dem Beitrag des D-RadioKultur von Mathias Greffrath vom 16. Oktober 2019, an der Stelle 17.20 bis 18.45 - bzw. von 11.42 bis 10.15)

 

Oktober 2020

 



 

 

Zur Frage nach dem grassierenden Nationalismus  – und wie wir das Problem lösen können

(wenn wir denn weniger an Hegels Weltgeist glauben und mehr an die Vorstellung, das Schicksal selbst in die Hand zu nehmen)

 

 

Nach den Erfahrungen des 20. Jahrhunderts begegnen viele Europäer dem Erstarken nationalistischer Kräfte mit einem großen Achselzucken und einer gehörigen Portion an Verständnislosigkeit und Ohnmacht.

 

Was steckt nur hinter dieser Mischung aus Xenophobie und Flucht auf das vermeintlich Eigene (Nation, Religion, Hautfarbe, u.a.)?

 

Man spricht von Angst als einer der Gründe. Und Angst ist wohl auch der eigentliche Nährboden.

 

„Angst ist ein schlechter Ratgeber“, meint der Volksmund. Andererseits ist Angst auch Indikator für einen Bereich, der unklar und wirr ist – und also, im Sinne der Aufklärung, darauf wartet, verstanden, aufgeklärt zu werden.

 

Eben dazu soll diese Analyse-Skizze (in der natürlich Sachverhalte grob vereinfacht und pauschalisiert dargestellt werden) beitragen und jene Angst beleuchten und verständlich machen, die einige Europäer zu Nationalisten macht und eine noch größere Anzahl an Europäern in deren Nähe drängt.

 

Per se hat Angst einen hohen Anteil an Irrationalität. Gewinnt sie eine gewisse Stärke, wird Angst extrem wirkmächtig. Beim Einzelnen, wie bei Gruppen und Nationen.

 

Die Angst, die den Nährboden des Nationalismus bildet, dürfte vor allem die Angst sein, etwas Bösartigem ausgeliefert zu werden: Dem Raubtierkapitalismus.

 

Woher kommt das und was bedeutet das im Einzelnen?

 

Wir Menschen sind Herdentiere – und zum größten Teil abhängig von der Gemeinschaft mit anderen Menschen, und geprägt durch sie.

 

Wie wir die Welt sehen, so meinen Psychologen, legen wir unbewusst im Alter von ca. 5 Jahren fest.

 

Jeder Mensch, der einigermaßen glücklich aufwächst, erlebt in dieser Zeit eine Zugehörigkeit und einen Schutz und ein Aufgefangen-werden durch seine Eltern. Kinder erleben, dass mal dieses und jenes passiert, auch mal „schlimmes“ – aber was auch ist, die Eltern (bzw. die Familie) treten für sie ein, fangen sie auf, beschützen und helfen ihnen.

 

In dem Modell „Ich-habe-Eltern/Familie-die-mich-im-Notfall-auffängt“ lässt es sich prima leben und entwickeln. 

 

Wenn man dann erwachsen und allein verantwortlich ist, bedeutet das auch: Wir wollen nicht mehr, dass unsere „alten“ Eltern diese Rolle für uns spielen.

 

Nur: Wer spielt diese Rolle dann? Wer erfüllt dieses Ur-Bild von etwas, das uns im Notfall auffängt, schützt, hilft – und was Menschen zu allen Zeiten und in allen Altersstufen für ihre Existenz brauchen?

 

Für gläubige Menschen spielt „Gott“ oder die Glaubensgemeinschaft die Rolle der „Eltern“. Das gibt gläubigen Menschen oft eine schöne Stärke, Gradlinigkeit und Sanftheit. Der Vater im Himmel, die Heilige Mutter Kirche und ähnliche Begriffe weisen auf dieses Modell hin.

 

Und was ist mit den Millionen Europäern, die sich seit dem Einsetzen der Säkularisierung keiner Religion zugehörig fühlen?

Wer ist für sie Mutter & Vater?

 

Im „Kommunismus“/“Sozialismus“ (ich verkürze und verallgemeinere hier stark) war es ebenfalls die Gemeinschaft und eine Idee, die als eine Art von „Eltern“ fungierten.

 

In der alten BRD wiederum gab es eine prima Mischung aus starker sozialer Marktwirtschaft und den Amerikanern als großer Bruder.

 

Durch den glücklichen Umbruch, der das Ende des Kalten Krieges bedeutete, kam es auch zu einer Verschiebung dieser Struktur.

 

Fast 30 Jahre später (ich verkürze wieder stark) fühlen sich viele Menschen ihrer alten „Eltern“ beraubt ohne neue „Eltern“ bekommen zu haben. Sie fühlen sich eher wie „hilflose Waisen“.

 

Vor allem in den ehemaligen osteuropäischen Regionen, wo der Umbruch viel stärker in das Leben der Menschen eingriff als im Westen, ist das Gefühl stark ausgeprägt, „ohne Eltern“ (ohne eine Instanz, die einen auffängt) dazustehen.

 

Und nicht nur fühlen sie sich ohne starke „Eltern“, sie fühlen sich auch noch ausgeliefert. Sie haben das Gefühl, sie sollen sich einfügen in eine Familie, die da heisst „freie Marktwirtschaft“.

 

Nur: Die Bilder, die mit Begriffen wie „freier Markt“ oder „Globalisierung“ einhergehen sind nicht warm, freundlich, hilfreich, unterstützend – sie sind hart, kalt, gnadenlos etc. pp. Die Bilder sprechen von „friss oder stirb“, der Starke gewinnt, der Schwache wird niedergetrampelt etc. pp.

 

Nun wollen Menschen aber nicht in so einer Familie leben (wer will das schon?) – und suchen nach einer anderen. Jenseits des Raubtierkapitalismus‘. 

 

Und jetzt kommt die wichtige Frage: Wer gibt welche Einladungen, Modelle, Angebote, Bilder?

 

Nationalistische Kräfte nehmen das alte Schema auf und sprechen von „Wir“ – allerdings von einem ganz anderen „Wir“ als jenes, das z.B. Obama meint. Das „Wir“ der nationalistischen Kräfte definiert sich ja gerade nicht als offene, sondern als geschlossene Gruppe. Als etwas, das zu einem „Wir“ wird indem es einem „Anderen“ gegenübersteht.

 

Dieses nationalistische „Wir“ nährt seine Stärke in der Abgrenzung, nicht in dem Streben nach Verantwortungen, Lösungen, Aufbauendem.

 

Ja, es ist ein alter Hut, aber es funktioniert für verunsicherte Seelen.

 

Dagegen spricht Europa (noch) nicht von einem „Wir“, jedenfalls nicht klar und deutlich. Es hat die emotionale Rolle, die es spielen muss, noch nicht gefunden.

 

 

Was tun? 

 

Eine Gedanke: Könnte eine soziale Marktwirtschaft von den Europäern auch als „Mutter & Vater“ angesehen werden?

 

Die skandinavischen Länder, die ja gesellschaftlich und wirtschaftlich zu den starken, stabilen und erfolgreichen Gesellschaften in Europa gehören, können hier als Betrachtungs- und Analyse-Modell genutzt werden[1] - um die wirkenden Mechanismen, Vorteile und Nachteile einer starken sozialen Marktwirtschaft und auch mögliche Wege zu betrachten.  

 

Es scheint, die skandinavischen Gesellschaften haben ihren Kant intensiv absobiert und sehen, dass jeder Mensch a) eigenverantwortlich sein Leben führen möchte, aber b) in Notlagen Hilfe und Unterstützung braucht. Und dass diese Hilfe nicht etwas sein darf, was der Hilfsbedürfte wie ein Almosen bekommt (was gegen die Würde des Menschen verstößt), sondern dass so eine Hilfe ein Recht sein muss, das jedem zusteht. Selbstverständlich.

 

Dass man als Hilfsbedürftiger Hilfe also nicht erhält wie ein Bettler ein Almosen oder ein Angestellter eine Lohntüte als Gegenleistung für seine Arbeit – sondern wie ein Kind von seinen Eltern. Ohne Frage, vorbehaltlos, selbstverständlich.

 

Eine Gemeinschaft, die das nicht vermittelt, kann nicht mehr sein als eine Zweck-Gemeinschaft. Aber in einer Zweck-Gemeinschaft können Menschen nicht leben, weil es nicht ihre Seele nährt (das klingt leider pathetisch, trifft allerdings den Kern und das Kernproblem).

 

Dies Bild von „Eltern“ (als Ur-Bild dessen, was einen in der Not auffängt, schützt, hilft) ist etwas sehr Sonores und doch etwas, das ein jeder von uns in jedem Alter braucht. Es gehört wohl zu den universellen menschlichen Bedürfnissen.

 

Ich denke, durch deren Berücksichtigung erscheint ein klareres Bild der gegenwärtigen Situation und ihrer Herausforderungen – und ermöglicht vielleicht Lösungsansätze jenseits der bisherigen Vorstellungen und Strukturen.

 

Denn man kann es auch so sehen: Probleme sind auch Hilfe und Motivation, eine noch bessere und schönere Welt zu schaffen.

 

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Im Nachhinein noch ein Hinweis. Forschungen zeigen, dass untergetauchte Juden in Deutschland die bedingungslosen, lebensrettenden Hilfen oft von Menschen erhielten, die ebenfalls in Außenseiter-Positionen waren, wie etwa Prostituierte.

 

Das deutet wohl darauf hin, dass wir leider die Notwendigkeit von Hilfe und Unterstützung leicht übersehen, wenn wir nicht in einer ähnlichen Situation waren/sind.

 

Und das wiederum bedeutet: Wenn es uns gut geht, schätzen wir die Nöte und Notwendigkeiten anderer falsch ein. (Es hilft schon, sich diese Unfähigkeit zuzugeben.)

 

Darin sehe ich einen der Gründe, warum viele der einigermaßen wohlsituierten Westdeutschen die Ängste derjenigen, die sich heute dem Nationalismus zuneigen, nicht wahrnehmen konnten, bzw. nicht ernst nehmen wollten. 

 

Und: All das dürfte auch für die Situationen in den anderen Ländern, wie in Frankreich beim Thema „Gelbe Westen“ gelten.

 

Februar 2019



[1] Das würde gleichfalls das Zugehörigkeitsgefühls der Skandinavier zur EU stärken, die sich jetzt leider oft als „abgeschieden“, zu weit entfernt und damit ohne Belang für die EU, empfinden.