Teil 2 - Vom besten Sein: Dem Bürger sein

Ein Bürger-Dasein? Spießig, kleinkariert, öde, grau. Bürger: Das waren diese durchschnittlichen, gesichtslosen Wesen, die kleinkariert lebten, sich kleinlich verhielten, intolerant dachten. Und bei jedem Anlass über die junge Generation meckerten. Bürger: Das waren die natürlichen Feinde von allem, was Spaß macht und das Herz höherschlagen lässt.

Damals dachten wir so. Mittlerweile steht er ganz anders da, der Begriff „Bürger“. Mittlerweile vermag er sogar, das Herz in Wallung zu bringen. Denn...


Durch etwas Leben und ein wenig Verständnis wird klar: Für den Menschen gibt es keinen besseren Seins-Zustand als der eines „freien Bürgers“, einer „freien Bürgerin“.

König, Diktatorin, Fürst oder Kaiserin sind dagegen Unglückspinsel, niedere Existenzen!

Der „freie Bürger“ ist vom Prinzip her ein Wesen, das als vollständig gleichberechtigte Personin einer Gemeinschaft aus anderen „freien Bürgern“ lebt. Ein Wesen, das am Gelingen dieser Gemeinschaft gleichberechtigt mittut, Rücksicht auf die anderen zu nehmen hat  – und ansonsten sein Leben so gestaltet, wie es sich dieses erwünscht, erträumt. Wie es ihm gefällt.

Gibt es etwas Besseres? Mir fällt nichts ein. Nur Gott und Göttin vielleicht.

 

Innerhalb von Deutschland hat sich das Bürger-Dasein bis dato verschiedentlich entwickelt.

Bei gewissen Intellektuellen zeigt sich ihr Bedürfnis, sich als etwas Höherstehendes anzusehen. Sie finden ihre Identität in Abgrenzung zum einfachen Kleinbrüger - und das dieser ein gleichberechtigter Mitbürger ist, erscheint dieser Art von Intellektuellen ein wahres Grauen.

Dann trifft man an so manchen Orten in unserer Republik, z.B. in Bayern, ein stark ausgeprägtes Untertan-Bewusstsein an. Da gibt es eine Vorstellung von „die da oben und wir da unten“: Die da oben, die regieren und bestimmen – und die unten, die sehen müssen, wie sie damit klarkommen und sich so durchwurschteln. Zur Not auch mit dem einen oder anderen Kniff, Hintergehen, "Beschiettern".

In Norddeutschland sieht es glücklicherweise schon anders, weit aus bürgerlicher aus. Wenn auch noch nicht so rosig, wie in der Schweiz.

Um es mal klar zu formulieren: Im Vergleich mit den Eidgenossen sind auch wir Hamburger obrigkeits-hörige Dumpfbacken! Da haben auch wir definitiv noch viel Entwicklungspotential.

 

Die zweite Nacht unserer Rallye verbringen wir in den Kantonen Appenzell. Am Morgen darauf treffen sich alle in der Stadt Appenzell. Mittenmang. Auf dem Landsgemeindeplatz.

„Ja, Appenzell, das ist ja eine Landsgemeinde“, bemerkt unser Rallye-Kollege This Schwendimann. „Aha“, antworten wir und betrachten die Häuser drumherum. „So, so.“ Denn wir haben keine Ahnung, wovon This spricht.

 

„Landsgemeinde“, das ist, wie wir erfahren, etwas sehr Besonderes. Der Kanton Appenzell-Innerrhoden (nicht zu verwechseln mit dem Nachbar-Kanton Appenzell-Ausserrhoden!) ist noch immer eine Landsgemeinde und somit treffen sich einmal jährlich alle Stimmberechtigten auf dem Landsgemeindeplatz, diskutieren die anliegenden Thematiken und stimmen dann unter freiem Himmel darüber ab.

„Direktere Demokratie gibt’s nicht“, kommentiert das Plakat einer Appenzeller Bank, die mit dem Foto einer Abstimmung wirbt. Sie erläutert: „Jeweils am letzten Aprilsonntag werden seit über 600 Jahren Regierung und Kantonsgericht gewählt sowie Beschlüsse zu Gesetzen und Krediten gefällt. Gemehrt wird durch Hochhalten der Hand.“

Gemehrt? Das ist Schweizerisch. Mehren bedeutet abstimmen.


Dabei ist das Hochhalten der Hand eher neumodischer Krams. „Früher erhob man sein Schwert“, erklärt This. Davon zeugt auch die moderne Statue, die auf dem örtlichen Brunnen steht: Rechte Hand oben, linke Hand am Schwert bzw. Degen.

Und früher waren es auch nur männliche Hände, die sich oder das Schwert erhoben. Erst 1990 wurde in Appenzell-Innerrhoden auch den Frauen das Stimmrecht zu gestanden. Leider bisher ohne, dass die Statue auf dem Brunnen dauerhaften Besuch von einer Statue-inne bekommen hätte....

Allerdings: Wie in Appenzell-Innerrhoden ist es nicht überall in der Schweiz. Schon in Appenzell-Ausserrhoden hat man sich vor 20 Jahren zur Umstellung auf den Urnengang entschlossen. 

Heute gibt es in der Schweiz neben Appenzell-Innerrhoden nur noch einen weiteren Landsgemeinde-Kanton: Glarus. (Glarus? Sagen wir es so: Wenn Sie bis dato nicht einmal wussten, dass es einen Kanton namens Glarus gibt, dann waren Sie mit diesem Nicht-Wissen nicht allein.)

Ansonsten gibt es direkte Demokratie à la „Landsgemeinde“ nur auf Bezirks- und Gemeinde-Ebene. Und natürlich nur in der Schweiz. Denn wer hat's erfunden?

Wie alles, so hat diese direkte Form der Demokratie, diese Landsgemeinde-reierei auch so seine Nachteile: Was ist, wenn man an dem Tag nicht vor Ort ist? Oder: Was ist, wenn man nicht möchte, dass der Nachbar weiß, wie man abstimmt? Geheim ist diese Art von Wahl ja nun ganz und gar nicht.

Andererseits hat sie eine andere gewichtige Qualität: Gerade weil die Abstimmung nicht im geheimen und vereinzelt, also individuell getroffen wird, sondern in der Gemeinschaft und nach einem gemeinschaftlichen Diskurs stattfindet, ist der abstimmende Bürger hier auch gleichzeitig ein Parlamentarier. Ein Gesetzgeber.

Und das hat doch ein ganz anderes Geschmäckli und schafft ein ganz anderes Bürger-Bewusstseinli….

 

Einige Tage später sind wir auf einer unserer Extra-Rallyes durch das Emmental und das UNESCO Biosphärenreservat Entlebuch im Kanton Luzern. Dazu müssen wir vor Ort einige Fragen beantworten. Zum Beispiel, ob die gesamte hiesige Bevölkerung über die Bildung des UNESCO-Reservats Entlebuch abstimmte – oder nicht. Das ist einfach. Denn: Ist der Papst katholisch? Wer in der Welt sollte es sonst bestimmt haben?

 

Für anderes wenden wir uns an die Einheimischen. Auf der Suche nach Antworten. So kommen wir auch in den kleinen Ort Escholzmatt. Wir stoppen an einer kleinen Dorf-Tankstelle mit anschließender Autowerkstatt. „Garage J. Emmenegger“ steht auf dem Schild.

 

In der Werkstatt sehen wir zwei Beine unter einem aufgebockten Auto. Der ganze Mann, der dann hervortritt muss Herr Emmenegger selbst sein. Er ist über 60 Jahre, schlank, im üblichen Werkstatt-Dress. Er kann uns bei den Fragen helfen. Und es kommt zum Gespräch. Über den Grund unserer Schweiz-Reise, die alten Autos und die neuen Elektros und die Situation im Allgemeinen.  Herr Emmenegger steht da, ruhig und erzählt, z.B. dass er früher der hiesige Opel-Vertreter war und was er so denkt über die Situation – dabei schaut er immer wieder auf das ölverschmierte Auto-Teil in seinen ölverschmierten Händen.

 

Mit den Minuten, die wir so reden, wird etwas deutlich: Dieser Mann hat etwas, das wir in der Schweiz immer wieder angetroffen haben – und das sich nicht bei ähnlich situierten Deutschen erleben lässt: Der Herr Emmenegger wirkt gut informiert, interessiert – und dabei souverän, gelassen. Grade. So ruhig. So… Also: Es ist kaum vorstellbar, dass sich dieser Mann am Stammtisch oder sonst wo platziert, und mit seinem Wissen angibt oder einfordert, Recht zu haben.

 

Das ist es! Diesem Mann sind die Inhalte nicht egal, sie sind ihm wichtig, er ist informiert und interessiert – und doch scheint er frei davon zu sein, recht haben zu müssen.

 

Ist das ein Schweizer Phänomen, dass man nicht recht-haben muss? Ist das vielleicht, weil man bereits ein ganzes Bürgerrecht hat und lebt?

 

Das würde Sinn machen.

 

Es macht aber auch Sinn, dass es vielleicht eine deutsche Eigenschaft ist, diese Rechthaberei. Dieses Bedürfnis recht zu haben

 

Ist das gut? Wohl kaum. Es fühlt sich unangenehm, geradezu ekelig an. Und humorlos oben drein.

 

Wollen wir das in Deutschland, in Hamburg loswerden?

Also wir wären dafür. Wir würden dafür mehren.